Nadine Sierra - There's A Place For Us

Eine schwelgerische Melodie schwingt sich empor und klingt dann ruhig aus, als zwei junge Liebende, die durch Gewalt und Intoleranz getrennt waren, ihren Traum in ein gemeinsames Lied fassen: »Für uns gibt es einen Platz«, so singen sie, »irgendwo, einen Platz für uns.«

Die junge amerikanische Sopranistin Nadine Sierra wählte diese Anfangsworte des Lieds Somewhere aus dem Musical West Side Story, das Leonard Bernstein auf Texte von Stephen Sondheim schrieb, ganz bewusst als Motto und Titel ihres Debütalbums. Für die Sängerin, deren Großvater aus Puerto Rico stammt, hat die Geschichte um die Revierkämpfe zwischen einer weißen und einer puertoricanischen Gang einen sehr persönlichen Bezug. Doch sie unterstreicht, dass ihr Debüt weit über solche autobiographischen Momente hinausgeht: »Das Album soll jeden hoffen lassen, dass es irgendwo einen Platz für ihn gibt«, sagt die Sängerin, und ihre Stimme bebt dabei mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie weltweit das Publikum der Opernhäuser in ihren Bann zieht. »Meine Art, diese Idee in die Tat umzusetzen, ist die Verbreitung einer positiven Botschaft.«

Während die spanisch- und englischsprachigen Lieder auf diesem Album an das kulturelle Erbe von Sierras Vater anknüpfen, würdigt sie mit den portugiesischen Arien ihre Mutter, die einst aus Lissabon in die USA kam. In der Arie (Cantilena) aus Bachianas Brasileiras Nr. 5 verbindet der brasilianische Komponist Heitor Villa-Lobos eine schwermütige Melodie mit einem portugiesischen Text von Ruth Valadares Corrêa. Voll sehnsüchtiger Erwartung beschwört ihre Dichtung den aufgehenden Mond. Auch die folgende Vertonung von Langston Hughes Gedicht Stars widmet sich dem Himmel, diesmal dem über Harlem: Das Lied stammt aus dem Zyklus Only Heaven von 1997 von Ricky Ian Gordon, der sich damit in die Tradition großer amerikanischer Querdenker wie Bernstein und Sondheim stellte und wie sie die Grenzen zwischen Oper, Musical, Kunstlied und Popmusik verschwimmen ließ.

Die auf diesem Album versammelten Lieder sprengen nicht nur die Grenzen der Oper, sie präsentieren auch Künstler unterschiedlichster Herkunft. Dem lebhaften, feurigen Lied A Julia de Burgos, das aus Leonard Bernsteins Orchesterliederzyklus Songfest von 1977 stammt, liegt ein spanischsprachiges Gedicht der puertoricanischen Schriftstellerin Julia de Burgos zugrunde, die sich hier mit ihren vielen Rollen als Frau auseinandersetzt. Der Text des sinnlichen Liebeslieds Canção do Amor stammt ebenfalls von einer Dichterin, Dora Vasconcellos; Villa-Lobos komponierte die Musik ursprünglich für den Film Green Mansions von 1959, der im Regenwald am Amazonas spielt.

Als die USA 1976 den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung feierten, schrieb Bernstein sein Musical 1600 Pennsylvania Avenue, das einen schonungslosen Blick auf die im Weißen Haus unter dieser Adresse residierenden US-Präsidenten und ihre Familien wirft, aber auch auf ihre Sklaven und Diener. Am Broadway war das Werk ein Flop, doch die Musik lebte in anderer Form weiter, etwa im Lied Take Care of this House, das Bernstein zur Amtseinführung von Jimmy Carter dirigierte (und im Musical-Kontext eine Bitte der damaligen Präsidentengattin Abigail Adams an einen Sklaven darstellte). Das Thema »amerikanische Politik« zieht sich unterschwellig durch das gesamte Album: Sierra will die Musik als universell verständliches Medium zur Verbreitung ihrer tiefen Überzeugung nutzen, dass »der wahre amerikanische Traum darin besteht, Menschen zu verbinden, egal, woher sie kommen und an was sie glauben«.

Das virtuose Glitter and be Gay aus Bernsteins Operette Candide, einer Adaptation der gleichnamigen Novelle von Voltaire, geht der Frage weiblicher Rollenzwänge nach, während Ricky Ian Gordons Vertonung eines Gedichts von Emily Dickinson ganz unschuldige, grundlegende Fragen stellt: Will there really be a Morning? Danach lädt uns Melodia Sentimental, ein weiteres Lied aus Villa-Lobos’ Amazonas-Filmmusik, dazu ein, wach zu bleiben, nach dem Mond zu schauen und auf diese Weise den Anbruch des Tages noch ein wenig hinauszuzögern.

In der festen Überzeugung, dass »Oper keine tote Kunstform ist«, hat Sierra auch mehrere neue Werke auf die Bühne gebracht: So übernahm sie etwa 2011 eine wichtige Rolle in einer Oper von Christopher Theofanidis. Maia’s Aria stammt aus The Cows of Apollo, einer früheren Oper dieses herausragenden amerikanischen Komponisten, und ist ein Paradebeispiel für seinen brillanten, ekstatischen Stil.

Angesichts der reichen Auswahl moderner amerikanischer Werke auf dieser CD erscheint es passend, dass das älteste Werk aus der Feder von Stephen Foster stammt, dem ersten großen Songwriter des Kontinents. Sein gefühlvoller, direkter Stil, der sich auch im verträumten Jeannie with the Light Brown Hair spiegelt, ist ein Meilenstein der amerikanischen Liedkunst.

Mit dem 2002 entstandenen Lied Lúa Descolorida des argentinischen Komponisten Osvaldo Golijov richtet sich unsere Aufmerksamkeit erneut auf den Mond. Rosalía de Castro schrieb den schwermütigen Gesangstext in der charakteristischen Sprache Galiciens, einer autonomen Region in Spanien an der Grenze zu Portugal. Als Golijov in die Vereinigten Staaten übersiedelte, um sich dort musikalisch weiterzuentwickeln, reihte er sich in die erlesene Gemeinschaft immigrierter Komponisten ein, zu denen auch Igor Strawinsky gehörte. Dieser schrieb seine meisterhafte Oper The Rake’s Progress während seiner Zeit in Los Angeles. In der daraus entnommenen Arie No Word from Tom wartet eine Frau auf eine Nachricht ihres missratenen Liebhabers – und wieder ist der Mond ihr Begleiter. Sierras Interpretation des Stücks zeigt uns deutlich ihre enorme Stimmgewalt; die Sängerin entzieht sich jedoch konsequent dem Stereotyp der »Diva«, deren Gesang allein ihrem Ruhm dient. »Ich sehe mich lediglich als musikalische Mittlerin im Dienste von etwas Höherem«, betont die Sängerin. »Ich will den Menschen dienen, der Kunst dienen, der Musik dienen, dem Komponisten dienen und neuen Zuhörern dienen – Menschen, die nie geahnt hätten, dass sie an Oper oder klassischer Musik interessiert sind.«

Der Wunsch, alle Menschen über Musik miteinander zu verbinden, steht im Mittelpunkt dieses Albums – und ist ein Herzenswunsch von Nadine Sierra. »Die Oper gehört allen«, so die Sängerin, »egal, wie alt sie sind, zu welcher Rasse sie gehören, womit sie Geld verdienen oder vielleicht auch nicht. Diese Musik spricht zu uns, denn sie spiegelt die menschliche Natur.«

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